Nachschub (Untermarkt)
Am Abend des Tages, die Stunde Jhorans nähert sich ihrem Ende, erreicht eine
kleine Karawane das östliche Stadttor von Esticha. Drei Teccrakha von eher
durchschnittlicher Größe begleiten den Troß. Sie werden von Angehörigen des
Endrakha-Kultes geritten, wie die auffälligen schwarzen Rüstungen verraten.
Offensichtlich handelt es sich um die allmonatliche Lieferung kleinerer und
größerer Notwendigkeiten, die den Tempel reglmäßig aus dem Mutterhaus
erreicht. Doch ist der Troß diesmal deutlich größer als sonst. Wo
normalerweise ein einzelner Wagen über die Straße rollt, besteht die
Reisegesellschaft diesmal aus gleich drei großen Wagen, deren Ladeflächen
nicht, wie sonst üblich mit einer Plane verdeckt sind. Stattdessen sieht man
darauf nichts weiter als jeweils vier große hölzerne Kisten, beschlagen mit
schweren Eisenbändern und massiven Riegeln. Die Roputane werden an Leinen
geführt. Sie legen sich mächtig ins Zeug und die Wagen nähern sich zügig dem
Stadttor. Zu dem Troß gehört zudem ein kleinerer Karren, der von einem
Farchivui gezogen wird. Darauf stapeln sich die Zeltplanen, Kochutensilien
und Wassertröge der Reisegesellschaft, so dass auch hier kein Platz für
Passagiere ist. Das halbe Dutzend chiranischer Kriegerinnen, die den Zug
begleiten, geht neben dem Karren. Auch das ist durchaus kein normaler
Anblick, denn gewöhnlich wird der Nachschub nicht von so vielen Angehörigen
des Kultes begleitet, sondern eher von Handlangern.
Wie bei den meisten Endrakhi sind die sechs Priesterinnen völlig
unterschiedlich gewandet und bewaffnet. Gingen sie nicht einträchtig neben
diesem Zug her, würde man ihnen kaum ansehen, dass sie zusammengehören.
Abgesehen von der durchgängig schwarzen Farbe mit wenigen roten Akzenten,
sind vom Kopfputz bis zu den Füßen die verschiedensten Moden des
Rüstungshandwerks zu bestaunen. Eine trägt einen vollständig aus
geschwärztem Stahl bestehenden Panzer, der sich wie Schuppen um sie legt und
gleichzeitig jeder ihrer Bewegungen folgt, eine andere ist lediglich in
wenige Tücher gehüllt, die ihren Körper beinahe spielerisch umwehen. Leder,
verschiedenste Stoffe und Metalle, Flechtwerke aus Pflanzenfasern und
hölzerne Rüstungsteile, kaum etwas fehlt in dieser Sammlung verschiedenster
Kleidungsformen. Auch was Waffen angeht ist von der klassischen Asnichara
bis zum Vecclas madran fast alles vertreten, das sich ein Bewohner Eluriens
ausmalen kann.
Bevor der Troß das Tor bis auf einen Yevan erreicht, löst sich eine der
Priesterinnen aus der Gruppe und spurtet voraus. Sie präsentiert dem
interessierten Zuschauer einmal mehr Grazie und Schnelligkeit der Chira im
Sprint in Perfektion, als sei der zuvor absolvierte Tagesmarsch nichts als
eine lockere Aufwärmübung für sie gewesen. Als sie das Tor erreicht atmet
sie mehrmals tief durch, bevor sie die Wachen anspricht. Dem aufmerksamen
Beobachter gibt sie damit - gewollt oder ungewollt - ausreichend Gelegenheit
ihre Erscheinung zu mustern.
Sie trägt einen im Nacken verstärkten Schulterpanzer aus geschwärztem Stahl,
der beweglich mit einem enganliegenden, dicken Lederpanzer für den
Oberkörper verbunden ist. Die Schnürung vorne gibt vom Hals bis zum Nabel
den Blick frei auf ihr sandfarbenes Fell. Um die Taille trägt sie einen
knöchellangen Waffenrock, der an beiden Seiten geschlitzt bis zur Hüfte. Sie
ist erstaunlicherweise ohne Schuhwerk unterwegs. Mehr Aufmerksamkeit als die
Kleidung mag jedoch ihre Bewaffnung auf sich ziehen. Denn neben der
Asnichara und einigen Dolchen an verschiedenen Stellen des Körpers trägt sie
einen 2,5 Vat langen Stab, der von einem menschlichen Schädel gekrönt wird.
Die Chira ist gut 2 Vat und 4 Checlat groß und mustert die Wachen am Tor aus
honiggelben Augen. "Evocha Cerrakhan Mondrivial mit einer Lieferung für den
Tempel der Endrakha." stellt sie sich selber und den Troß vor. Der Ton ist
befehlsgewohnt und die Stimme laut genug, dass jeder am Tor sie deutlich
vernehmen kann. "Wer hat hier das Sagen?" - Wenn jetzt keiner schnell genug
antwortet, könnte es passieren, dass sie selbst die Initiative ergreift.
Nachschub
Erstaunt mustern die Torwachen den heranrückenden Tross, und manch einer, der sich vielleicht Endrakha besonders verbunden fühlt, schlägt ehrfürchtig die Augen nieder. Die hier stationierten Männer und Frauen unterschiedlichster, aber überwiegend menschlicher Herkunft tragen den blauweissen Waffenrock der Stadt Estichà, und sind Angehörige der Stadtwache. Was Evocha wohl nicht weiss, was sie aber sicher auch nicht interessiert hat, ist, dass die Torwache erst vor einiger Zeit aus dem Aufgabenbereich der Armee in jenen der Stadtwache überführt wurde. "Die Untersuchung auf vorovische Spione können wir diesmal wohl auslassen.", murmelt die ranghöchste Offizierin ganz leise ihrem Kollegen zu, ehe sie auf Evocha zusteuert, die so selbstbewusst um Aufmerksamkeit ringt.
"Sichàra, Ehrenwerte.", wird sie wie selbstverständlich mit der Priesteranrede angesprochen. "Willkommen in Estichà. Nun, äh..." Ihr Blick gleitet über den Tross, und kurz scheint sie etwas zu 'schwimmen', ehe sie etwas unsicher zurück zu Evocha sieht. "Ich nehme an, ihr wollt passieren. Für den Fall mache ich euch darauf aufmerksam, dass nur Priester und Bürger Eluriens gestattet ist, Waffen in Estichà zu tragen. Für jene aus eurem Gefolge, auf die beides nicht zutrifft, steht für die Dauer des Aufenthaltes ein Lager zur Verfügung, wo die Waffen sicher und bewacht verwahrt werden können."
Nachschub
Evocha nickt nur leicht mit dem Kopf als Antwort auf die formelle Begrüßung. "Sichara." fügt sie kurz angebunden hinzu. Ihre aufmerksamen Augen folgen den Blicken der Offizierin. Schließlich blickt sie selbst noch einmal zu dem Troß herüber bevor sie die Schultern zuckt. "Interessanter Brauch." erwiedert sie dann schmunzelnd, wird aber sofort wieder ernst. "Aber keine Sorge: die Ungeweihten sind nicht bewaffnet. Einer aus Eurem Aufgebot hier am Tor soll ihnen den besten Weg für die schweren Wagen zum Endrakhatempel weisen. Ich selber brauche einen Führer, der mich auf dem schnellsten Weg dort hin bringt. Wer kann das tun?"
Evocha schaut sich kurz zu dem Troß um und besieht sich dann die unterschiedlichen Wachen am Tor.
Nachschub
"Ich habe keinen entsprechenden Befehl vorliegen, Ehrenwerte.", erinnert die höfliche, aber bestimmte Entgegnung der Offizierin die Priesterin vielleicht an die vorsichtig säkularisierten Strukturen Eluriens. "Aber ich entspreche gerne eurer Bitte, und gebe euch einen Mann mit, der euch und dem Tross den Weg zu weisen imstande ist." Mit einer Handbewegung winkt die Offizierin einen Gefreiten heran, der sich praktischerweise in Hörreichweite befand, und weist ihn an, den Endrakhi als Führer zu dienen.
"Tajas ichè Endrakha, Ehrenwerte."
Nachschub
Die Chira hebt schon zu einer Entgegnung an, was den Befehl betrifft. Offensichtlich ist aber die weitere Äußerung der Offizierin so verblüffend, dass Evocha sie nur irritiert und mit offenem Mund anstarrt. Erst auf die förmliche Verabschiedung hin erwacht sie scheinbar aus ihrer Starre und antwortet mechanisch und recht leise: "Tajas iche Endrakha"
Mit einem Kopfschütteln schaut sie der Offizierin nach, bevor sie sich mit fester Stimme an den Wachsoldaten wendet: "Du führst uns auf dem besten Weg zum Tempel der Endrakha! Dann bleibe ich halt beim Tross." setzt sie ein wenig missmutig nach, fügt sich aber in ihr Schicksal.
Auf dem Weg durch die engen Straßen der Stadt kann man jedoch beobachten, dass sie und ihre Schwestern sehr aufmerksam die schroffen Wände des Tafelbergs studieren, während sie den Aufstieg im gemächlichen Tempo der schwer beladenen Wagen begleiten. Einige Male deutet Evocha mit ihrem Stab und dem daran befestigten menschlichen Totenschädel auf Besonderheiten, die sich dem Auge des Zuschauers aber nicht erschließen.
An ihrem Ziel angekommen verschwindet der gesamte Tross durch eine breite Pforte. Die drei Mann hohen Doppelflügel der Tore schließen sich hinter ihnen und verbergen die wohl gehütete Ladung der Wagen vor neugierigen Blicken.